Vincent und Markus, wie kommt Ihr auf die Idee, eine eigene Universität zu gründen?
MARKUS KRESSLER: Die Idee für die Kiron University ist im vergangenen Jahr auf einem Konvent der Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung entstanden. Bei dem Treffen ging es darum, wie man Flüchtlinge nachhaltig, das heißt für mich sozial-unternehmerisch, in die Gesellschaft integrieren kann. Sie haben oft keinen Zugang zu einer physischen Universität. Eine Online-Uni ist eigentlich die einzig mögliche Uni für Flüchtlinge.
Wie lange hat es gedauert, die Kiron University aufzubauen?
VINCENT ZIMMER: Die Entscheidung fiel im Oktober 2014. Damals haben wir in Istanbul Odai kennengelernt, der genau von dem Problem betroffen war. Er musste aus Syrien fliehen, hatte keine finanziellen Ressourcen, keinen legalen Status, keinen Platz an einer Uni. Zwei Jahre hat er in der Türkei gewartet. Er konnte nichts machen, nicht reisen und nicht arbeiten.
Die Zeit hätte er sinnvoll nutzen können …
VINCENT ZIMMER: Genau. Er hat das verkörpert, was wir in der Theorie gesehen haben. Odai ist ein persönlicher Freund geworden und arbeitet heute im Team von Kiron. Weil wir emotional so nah dran waren, konnten wir nicht wegschauen, gerade weil wir vielleicht eine Lösung hatten. Wir haben uns relativ viel Zeit für das Konzept genommen. Wie bekommen die Menschen einen Computer und einen Internetzugang? Wo sollen sie lernen? Was machen wir mit traumatischen Erlebnissen? Was ist mit Sprachbarrieren? Im März haben wir angefangen, die Hochschulen anzusprechen, und versucht, Leute zu überzeugen mitzumachen.
Welche Unis waren das?
VINCENT ZIMMER: Das waren viele. Die Universität Lüneburg und die Hochschule Heilbronn waren die ersten, die mit uns einen Vertrag geschlossen haben.
Haben die Unis das gemacht wegen der Digitalisierung oder für die Flüchtlinge?
VINCENT ZIMMER: Sowohl als auch. Es funktioniert meistens so, dass es einzelne Professoren gibt, die sich engagieren. Die Rektoren sagen häufig ja, weil das Thema Flüchtlinge wichtig ist. Aber auch die Profilierung der Hochschule im Bereich Digitalisierung spielt eine Rolle.
Und warum Lüneburg und Heilbronn?
MARKUS KRESSLER: Die waren schneller als die anderen, versuchen selbst, innovative Lehrkonzepte in der Digitalisierung zu etablieren, und haben einfach ein großes Herz.
Schneller als die TU Berlin oder die Humboldt-Universität?
VINCENT ZIMMER: Mit denen sind wir auch im Gespräch. Aber unsere Erfahrung zeigt, je größer die Hochschule, desto schwerer ist es, so weitreichende Entscheidungen zu treffen. Zum Teil haben wir Kooperationen innerhalb von zwei Wochen hinbekommen. Das habe ich nie für möglich gehalten.
Was bringt Ihr in die Kooperation ein?
VINCENT ZIMMER: Wir bringen Innovation. Wir verbinden Prozesse, die schon existieren. Die Hochschulen haben natürlich Programme, aber sie sind immer an das Hochschulgesetz in ihrem Bundesland gebunden. Wir schaffen die nötige Flexibilität. Bei uns können Studenten in ein normales Hochschulprogramm kommen, ohne dass die Hochschule die rechtliche Verantwortung trägt.
Was bedeutet das?
VINCENT ZIMMER: Es gibt unglaublich viele rechtliche Hürden. Wenn ich mich im Asylprozess befinde, habe ich zum Beispiel generell keinen Zugang zu Hochschulen. In Berlin besteht zudem ein allgemeines Hochschulverbot für Flüchtlinge. Das umgehen wir. Digitalisierung bedeutet, dass wir über das Denken von Nationalstaaten, von regionalen Grenzen hinauskommen, Bestehendes vernetzen und zusammenarbeiten.
MARKUS KRESSLER: Wir verstehen die Kiron University als eine Art System Changer. In den ersten zwei Jahren können Flüchtlinge bei uns ohne die ganzen Papiere einfach die Onlinekurse absolvieren und so Zeit gewinnen, um Sprachkurse zu machen, ihre Hochschulreife nachzuweisen – alles, was sie brauchen, um in das bestehende Universitätssystem zu kommen. Dort machen sie im dritten Jahr ihren Abschluss.
Macht Ihr auch die Technik?
VINCENT ZIMMER: Die Hochschulen haben gar keine Ressourcen, das selbst umzusetzen. Und sie verstehen relativ wenig davon, was technisch möglich ist. Die Onlinekurse der Universitäten haben sehr geringe Abschlussquoten. Das liegt daran, dass die Unterstützungssysteme fehlen. Wir bauen eine Plattform dafür. Wir haben eine automatisierte App und verschiedene Partner für die psychosoziale Betreuung. Für die Sprache haben wir eine Kooperation mit dem Startup Lengio, das interessenbasierte Sprachkurse baut. Deren Algorithmus dürfen wir für unser Modul anpassen. Und das sind nur einige Beispiele.
Gibt es Vorbilder oder ist die Kiron University die erste ihrer Art?
MARKUS KRESSLER: Es gibt keine Vorbilder. Das merkt man, wenn man sich mit Flüchtlingen unterhält. Es gibt Programme, wie man an eine Uni kommen kann, wenn man einen anerkannten Status hat. Bei diesen Programmen muss man aber zur festen Zeit an einem bestimmten Ort sein und die Landessprache sprechen. Das ist für Flüchtlinge nicht möglich.
Wie habt Ihr das alles finanziert?
VINCENT ZIMMER: Wir haben Geld von Freunden und der Familie bekommen, wie das bei Startups üblich ist. Und ich war vorher schon im Startup-Bereich tätig und hatte daraus größere Ersparnisse. Ich habe um die 80.000 Euro investiert. Das ganze Projekt ist aber nur möglich, weil unsere Partner uns zuliefern und weil sehr, sehr viele Freiwillige uns unterstützen.
Habt Ihr noch andere Jobs?
VINCENT ZIMMER: Wir waren letztes Jahr zu einem McKinsey-Workshop und bei einem BCG-Recruiting-Event eingeladen. Da haben wir beide gemerkt, dass das nicht unser Ding ist. Die machen sicherlich auch spannende Sachen, man kann gutes Geld verdienen, aber es ist einfach nicht unser Weg.
Was ist Euer Weg?
MARKUS KRESSLER: Die Kiron University ist ein klassisches Social Business. Wir wollen Einnahmen erzielen, aber keiner von uns will mit einem Porsche rumfahren. Trotzdem sollen die, die bei uns gute Arbeit leisten, nicht für immer in einer Bar jobben müssen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.
Wie groß ist das Team?
VINCENT ZIMMER: Im Kernteam haben wir mittlerweile 46 Leute, die den Großteil ihrer Zeit auf das Projekt verwenden. Und ungefähr 200 Freiwillige.
Arbeiten auch Flüchtlinge bei Euch?
MARKUS KRESSLER: Unser Team ist international. Es waren von Anfang an auch Flüchtlinge dabei. Mittlerweile sind es fünf, die fest mitarbeiten.
Wer kann an Eurer Universität studieren?
VINCENT ZIMMER: Zielgruppe sind Flüchtlinge, Asylsuchende und Menschen in Krisenregionen. Wir nehmen jeden in das Programm, der ein staatliches Dokument vorlegen kann, dass er einen flüchtlingsbezogenen Status hat, und studierfähig ist.
Was heißt das?
MARKUS KRESSLER: Wir können keine Gesetze ändern. Wir wollen Menschen, die aus unglücklichen Umständen aktuell keine Möglichkeit haben zu studieren, eine Chance geben. Wer keine Hochschulreife hat, kann zwar bei uns studieren, aber nicht im dritten Jahr bei unseren Partnerhochschulen einen Abschluss machen. Unser Vorteil ist aber, dass wir nicht an Hochschulgesetze gebunden sind. Wenn jemand die Voraussetzungen in Berlin nicht erfüllt, erfüllt er sie vielleicht in Mecklenburg oder Bayern, oder es gibt Möglichkeiten bei unseren Partnern im Ausland.
Welche Fächer bietet Ihr an?
MARKUS KRESSLER: Aktuell sind es fünf: Ingenieurs-, Computer- und Wirtschaftswissenschaften, Architektur und Intercultural Studies. Im ersten Jahr beginnt man mit einem Studium generale, um sich zu orientieren.
Habt Ihr die Studiengänge ausgewählt?
VINCENT ZIMMER: Wir sind mit der Kiron University den klassischen Startup-Weg gegangen, haben ein Konzept geschrieben, einen Piloten gemacht und eine Studie, in der wir validiert haben, ob unser Angebot überhaupt auf Interesse stößt. Das Interesse war da, und wir haben die potenziellen Studenten gefragt, was für sie relevant ist. Dabei sind die fünf Fächer herausgekommen.
Mit wem arbeitet Ihr in Computerwissenschaften zusammen?
VINCENT ZIMMER: Das Hasso-Plattner-Institut in Potsdam stellt uns etwa 30 Onlinekurse zur Verfügung. Die haben auch großes Interesse daran, unser Projekt wissenschaftlich zu begleiten: Wie lernen die Menschen? Wie erfolgreich sind sie? An welchem Punkt scheitern sie? Bei der Kiron University ist das ganze Studium digital, man kann die Kurse anpassen, je nachdem wie ein Student lernt. Das sind Möglichkeiten, die es in einem Offlinekurs mit klassischen Vorlesungen gar nicht gibt.
Ihr seht, ob jemand tatsächlich lernt?
VINCENT ZIMMER: Wir sehen, wann jemand online ist und wie lange er für einen Kurs braucht. Auch die Notizen sind online. Wir schaffen Erfahrungswerte, die noch nirgendwo vorliegen. Daran haben auch die Hochschulen Interesse. Wenn wir Kapital bekommen, können wir das immer weiter optimieren.
Aktuell läuft Eure Crowdfunding-Kampagne auf Startnext. Das Ziel sind 1,2 Millionen Euro. Wofür ist das Geld?
MARKUS KRESSLER: Über die Kampagne wollen wir den Studenten ein gutes Studium ermöglichen. Wir decken zum Beispiel die Kosten für Sprachkurse, einen Bibliothekszugang oder die Betreuung. Das ist wie ein Stipendium.
Wie hoch sind die Kosten pro Student?
VINCENT ZIMMER: Wir rechnen pro Jahr mit 400 Euro pro Student, also mit 1200 Euro für drei Jahre. Das ist unfassbar wenig.
Wie viele Anmeldungen habt Ihr?
VINCENT ZIMMER: Das Interesse für die Kiron University ist riesig, wir haben mehr als 15.000 Anmeldungen allein bei uns.
MARKUS KRESSLER: Und von den Partnern könnte uns allein Brot für die Welt knapp 100.000 Leute schicken.
Und wie viele wollt Ihr aufnehmen?
MARKUS KRESSLER: Wir rechnen mit 10.000 bis 20.000 Studenten bis 2016. Anfangen werden wir mit mindestens 1000 und diese Zahl dann schnell steigern.
Ihr wollt 20.000 Studenten aufnehmen?
VINCENT ZIMMER: Man muss wissen, dass generell nur acht Prozent der Teilnehmer Onlinekurse auch tatsächlich abschließen. Selbst in einem traditionellen Studium sind es 40 Prozent, die ausfallen. Das ist traurige Realität. Ich glaube aber, wir werden bei 10.000 abriegeln, weil sonst unsere Server zusammenbrechen. Das wäre natürlich anders, wenn wir eine dauerhafte Finanzierung hätten.
Braucht Ihr noch Sponsoren?
MARKUS KRESSLER: Die werden wir im dritten Jahr brauchen, wenn wir um jeden Platz ringen, den wir den Partnerunis abtrotzen müssen. Dann kommt die Frage, wer die Plätze finanziert. Wir hoffen auf die Politik, dass sie generell mehr Mittel zur Verfügung stellt. Wir sprechen auch mit Stiftungen, privaten Spendern und Unternehmen. Das Problem ist: Die wollen alle erst sehen, dass es funktioniert, bevor sie etwas geben. Aus der Sicht der Stiftungen sind wir sehr Startup-mäßig unterwegs. Wir sind sehr schnell und arbeiten anders als soziale Projekte. Die würden erst einen Förderantrag schreiben, Geld bekommen, Leute einstellen und dann anfangen. So arbeiten wir nicht. Deshalb ist die Crowdfunding-Kampagne so wichtig: Wir können anfangen und ein Proof of Concept liefern.
Welche Unternehmen haben Interesse, die Kiron University zu unterstützen?
MARKUS KRESSLER: Alle müssten daran Interesse haben, wenn man bedenkt, dass aus einem Flüchtling, der nicht arbeiten kann, ein Akademiker wird. Das ist ein Supergeschäft für alle Beteiligten! Wir hatten zum Beispiel Gespräche mit Rocket Internet und mit der Telekom. Natürlich haben die Interesse an Ingenieuren und Computer-Science-Leuten.
Auch Rocket Internet ist interessiert?
MARKUS KRESSLER: Ja. Denn fast die Hälfte unserer Studenten will selbst etwas gründen. Wir haben deshalb auch eine Gründungsberatung bei uns. Ich denke, darum ist das für Rocket einfach superspannend.
Müssen die Studenten in Deutschland sein?
MARKUS KRESSLER: Nein, sie können sich von überall aus einschreiben. Wir werden in den kommenden zwei Jahren um die Welt reisen und jede Uni, die auf diesem Planeten ist, davon überzeugen, unsere Partneruni zu werden. Wir haben Teams in acht Ländern aufgesetzt und sind in Gesprächen mit Unis in der Türkei, den USA und anderen Ländern. Das Schöne an unserem Modell ist ja, dass es skaliert. Wir können das für hundert Studenten bauen, aber wir können es auch für 20.000 bauen. Das ist der Unterschied auch zu den Projekten, die von den Universitäten selbst gemacht werden.
Das Gespräch führte Corinna Visser.