Carsharing:

Rütteln am Denkmal

17/09/2017
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Mit der Erfindung des Automobils hat sich Deutschland ein Denkmal gesetzt. Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Rund 23 Stunden macht ein privater Pkw nichts anderes, als in der Gegend herumzustehen. Lediglich zwei Mal am Tag wird er bewegt. Diese Ineffizienz ist eines der stärksten Argumente für das weltweit boomende Carsharing. Denn nach einer Analyse des Berliner Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (Innoz) kommt ein Fahrzeug in Mailand auf 7,8 Bewegungen, gefolgt von Rom (7,3) und Florenz (6,9). Damit ist Italien im Bereich des flexiblen Carsharings Weltmeister. Erst nach dem kanadischen Calgary (6,7) erscheint Berlin (6,4) auf Platz fünf.

Unterwegs auf zwei und vier Rädern

Dabei gibt es in der deutschen Hauptstadt die mit Abstand weltweit größte Anzahl von Carsharing-Fahrzeugen. Die Angaben schwanken zwischen 2320 (Innoz) und 2900 (Boston Consulting Group). Sicher ist: Die Flotte wächst. Allen voran die Fahrzeuge der größten Anbieter Drivenow, hinter dem BMW steckt, und der Daimler-Tochter Car2go. Bei beiden Anbietern kostet die Nutzung je nach Art des gemieteten Autos zwischen 24 und 34 Cent pro Minute. Auch Volkswagen beobachtet den Carsharing-Trend und ist an Greenwheels beteiligt. Die Deutsche Bahn betreibt den bundesweit aktiven Carsharing-Dienst Flinkster, der nach Stadtmobil und Cambio zu den größten stationsbasierten Anbietern gehört.

Es muss aber nicht immer ein Auto sein, um auf Mietbasis motorisiert von A nach B zu kommen. Auch der E-Scooter-Verleih blüht an allen Straßenecken: In Berlin prägen derzeit die graugrünen Roller der Bosch-Tochter Coup und die orangeroten Scooter von Emmy immer stärker das Stadtbild, die ähnlich wie beim Carsharing einfach über eine Smartphone-App freigeschaltet und ausgeliehen werden können. Der Vorteil der Leih-Scooter im Vergleich zum Auto ist klar: Die Parkplatzsuche fällt weg. Und sie sind im Preis günstiger. So kosten bei Coup die ersten 30 Minuten pauschal drei Euro, Emmy berechnet ab der ersten Minute 19 Cent. Anbieterübergreifend funktioniert die App Free2move. Im Dezember vergangenen Jahres haben die Entwickler der Carsharing-App Carjump, wie Free2move vorher hieß, die Mehrheitsanteile an die PSA-Gruppe, wozu auch Peugeot und Citroën gehören, verkauft. Diese will sich nun breiter aufstellen und Leasing-Angebote, Leih-Fahrräder sowie Langzeitmieten ins Visier nehmen.

„Das Ende des privaten Pkw ist längst eingeläutet“

Carsharing ist mehr als ein Trend. Und das wachsende Angebot zwingt die Automobilhersteller umzudenken. „Das Ende des privaten Pkw ist längst eingeläutet“, sagt Maxim Nohroudi, Gründer des Mobilitäts-Startups Door2door, zu Spiegel Online. „In ein paar Jahren wird es in den meisten Gegenden so attraktive Sharing-Modelle geben, dass niemand mehr einen privaten Pkw braucht.“ 2011 gründete Nohroudi sein Startup, das einen On-demand-ÖPNV anbietet. Ohne sich  – wie sonst im öffentlichen Nahverkehr üblich  – an festgelegte Strecken mit Fahrplan halten zu müssen, können Kunden in der App Start und Ziel ihrer Fahrt angeben und einen Kleinbus von Door2door ordern. Ein Algorithmus berechnet für jeden Bus die optimale Route, um so möglichst viele Fahrgäste für einen günstigen Preis an ihr Ziel zu befördern. Das Ganze klingt nach einer sehr speziellen Nische, doch Gründer wie Nohroudi sehen das große und vor allem vielfältige Potenzial der Sharing Economy auf den Straßen, das gerade erst beginnt, sich voll zu entfalten.

Auf dem Weg zur Million: 350 Roller von Emmy sind seit 2015 mehr als 900.000 Kilometer gefahren. (Foto: Emmy)
Auf dem Weg zur Million: 350 Roller von Emmy sind seit 2015 mehr als 900.000 Kilometer gefahren. (Foto: Emmy)

In einer Studie von 2016 geht die Boston Consulting Group (BCG) davon aus, dass sich die Zahl der weltweiten Carsharing-Nutzer von derzeit rund sechs Millionen bis zum Jahr 2021 auf 35 Millionen erhöhen wird. Damit generieren die Menschen einen Jahresumsatz von 4,7 Milliarden Euro. Dabei wird Europa in vier Jahren die höchsten Carsharing-Umsätze erreichen, gefolgt von der Asien- und Pazifik-Region sowie von Nordamerika.

Sharing bis zum Breakeven

Deutschland mit Berlin als Carsharing-Hauptstadt gilt als wichtiger Treiber. Im Januar konnte der Bundesverband Carsharing, in dem derzeit 133 von 155 Anbietern organisiert sind, mehr als 1,7 Millionen Carsharing-Nutzer bei deutschen Anbietern registrieren. Das sind 36 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Der Grund: Carsharing rechnet sich für die meisten Verbraucher. Denn erst ab einer Laufleistung von 7500 Kilometern pro Jahr lohnt sich beispielsweise der Kauf eines eigenen Kleinwagens (zum Beispiel Smart Fourtwo oder Fiat 500) oder ab 12.500 Kilometern die Anschaffung eines Kompaktwagen (zum Beispiel VW Golf oder Opel Astra). Diese Entwicklung beobachtet auch die Bundesregierung, die auf Gesetzesstufe ihren Teil zur Verkehrswende beitragen muss. Seit dem 1.  September 2017 ist das Carsharing-Gesetz der Bundesregierung in Kraft getreten. Es gewährt Privilegien beim Parken wie reservierte Parkplätze oder die Befreiung von Parkgebühren und enthält darüber hinaus Regelungen, die verkehrs- und umweltpolitische Vorgaben betreffen. So dürfen bei der Auswahl des Anbieters Aspekte wie die Vernetzung mit dem öffentlichen Nahverkehr und der Klimaschutz berücksichtigt werden. Das bevorzugt Carsharing-Flotten mit Elektrofahrzeugen oder Hybridantrieben.

Der Umwelt zuliebe?

Bereits heute sind laut Bundesverband Carsharing (Stand Januar 2017) 10,4 Prozent der Fahrzeuge in deutschen Carsharing-Flotten batterieelektrische Fahrzeuge oder Plug-in-Hybride. Immerhin ein guter Start in die umweltfreundlichere Zukunft der Mobilität sind E-Autos im privaten Gebrauch doch noch unterrepräsentiert. Dennoch sind Elektrofahrzeuge in Carsharing-Flotten derzeit in der Regel noch nicht wirtschaftlich zu betreiben. Der Verband fordert daher eine Anschubfinanzierung über eine mittelfristig andauernde Bundesförderung, damit mehr Elektrofahrzeuge in Dienst gestellt werden können.

„In innenstadtnahen Wohngebieten ersetzt ein Carsharing-Fahrzeug heute bis zu 20 private Pkw“

Die Frage ist, ob Carsharing tatsächlich eine Verkehrswende in deutschen Städten bewirken kann. „In innenstadtnahen Wohngebieten ersetzt ein Carsharing-Fahrzeug heute bis zu 20 private Pkw“, sagt Willi Loose, Geschäftsführer des Bundesverbands Carsharing. „Vor allem stationsbasiertes Carsharing befreit Städte also in erheblichem Umfang von überflüssigen Autos. Das ist für uns die eigentliche, verkehrs- und umweltpolitische Bedeutung des Carsharing-Wachstums.“ Selbst BMW-Tochter Drivenow will der Umweltbelastung durch zu viele Autos im Straßenverkehr mit ihrem Konzept der Sharing Economy entgegentreten. Dabei hat die Marke als einer der größten Carsharing-Anbieter natürlich keine rein altruistischen Ziele, sondern vor allem das wirtschaftliche Potenzial des Teilens für sich erkannt. Zu Umsatz und Gewinn macht Drivenow im Gespräch mit Berlin Valley keine Angaben, aber: „Grundsätzlich ist festzuhalten, dass das Free-Floating-Carsharing im Vergleich zum stationären Carsharing noch jung ist, es aber in dieser kurzen Zeit Carsharing generell zu exponentiellem Kundenwachstum verholfen und damit aus der Nische geholt hat“, sagt ein Sprecher.

Drivenow sei in Deutschland seit 2014 operativ profitabel. Eine Studie des Berliner Unternehmens Civity über die Nutzung der Drivenow- und Car2go-Fahrzeuge in Berlin zeigt jedoch: Das beliebte FreeFloating-Carsharing verhindert nicht unbedingt Autoverkehr. Es „deckt Entfernungsbereiche und Mobilitätsbedürfnisse ab, die größtenteils mit dem öffentlichen Verkehr oder dem Fahrrad zu bewältigen gewesen wären. In Berlin sind 50 Prozent der Fahrten kürzer als fünf Kilometer.“ Die Experten der Studie gelangen zu der These, dass Free-Floating-Carsharing in einem erheblichen Umfang „motorisierte Bequemlichkeitsmobilität im Nahbereich“ ist. Also einfach nur eine andere Form der Fortbewegung, aber keine umweltbewusstere oder für den Straßenverkehr entlastend. Um mithilfe weiterer Auslastung der Systeme und offensiver Expansion ein weltweites Umsatzpotenzial von bis zu 1,4 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 zu erreichen, müsste sich laut der Studie die Anzahl der Carsharing-Systeme von 30 (im Jahr 2014) auf rund 140 verfünffachen – eine wahrlich ehrgeizige, wenn nicht unrealistische Vision. Mit einem Marktanteil im Berliner Verkehr von gerade einmal 0,1 Prozent leisten Free-Floating-Carsharing-Systeme dem Fazit der Studie zufolge bis dato keinen direkten Beitrag zur Lösung von Verkehrsproblemen in Ballungsräumen.

Carsharing als Appetizer

Drivenow hält hingegen am ökologischen Faktor des Carsharings fest. „Was die Autonutzung in Städten betrifft, ist Drivenow davon überzeugt, dass alternative Mobilitätskonzepte in Städten erforderlich sind, um die Umweltbelastung zu verringern und das Problem der Verkehrsüberlastung in den Griff zu bekommen. Carsharing ist dabei neben dem ÖPNV und anderen Mobilitätsvarianten ein wichtiger integraler Baustein, um nachhaltige Mobilität abseits des eigenen Autos zu gewährleisten“, sagt der Sprecher weiter. „Denn je attraktiver und verfügbarer ein Mobilitätsmix in der Stadt ist, desto eher können Menschen ihre Mobilität ohne ein eigenes Auto abbilden und es schließlich abschaffen. Wir sehen ein zunehmendes Umdenken, auch unter den autoaffinen Menschen.“

Carsharing – ein Angriff auf die Automobilwirtschaft? Nicht unbedingt. Professor Willi Diez, Direktor des Instituts für Automobilwirtschaft (IFA) der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen, sieht neben dem ökologischen und ökonomischen Nutzen des Sharings auch Vorteile für die Automobilwirtschaft. „Ich glaube, die Automobilwirtschaft profitiert vom Carsharing. Natürlich kauft jemand kein Auto, der den Service nutzt. Aber durch Carsharing kommen die Hersteller an neue Zielgruppen heran“, sagt Diez zu Berlin Valley. „Irgendwann ändern sich bei vielen Menschen die Lebensumstände, gerade bei jungen. Wenn sie beispielsweise in der Stadt studieren, passt Carsharing optimal in ihre aktuelle Lebensphase. Ein paar Jahre später aber kommt vielleicht die Familiengründung hinzu, man zieht an den Stadtrand und möchte doch lieber ein erstes, eigenes Auto haben. Dann ist es für die Hersteller nicht schlecht, wenn es dann schon einen ersten Kontakt mit ihrer Marke gegeben hat. Daimler mit Car2go und BMW mit Drivenow haben mit Carsharing ganz neue Nutzergruppen für sich erschlossen.“

Chancen im unkonsolidierten Martk

Ob aber die Platzhirsche der herkömmlichen Automobilwirtschaft auch beim Thema Sharing die Oberhand behalten, wird sich zeigen. Der Markt ist jung und neben den Startups wollen auch andere Stakeholder der Mobilitätsbranche ein Stück vom Kuchen. Das sind sowohl die klassischen Autovermieter wie Sixt (Drivenow), Europcar (Ubeeqo) oder Avis (Zipcar), aber auch Zulieferer wie Bosch. Das Traditionsunternehmen aus Gerlingen startete vor einem Jahr in Berlin das Elektroroller-Startup Coup. „Unsere Erwartungen wurden übertroffen“, sagt Markus Heyn, Mitglied der Geschäftsführung von Bosch. Deshalb soll sich der Erfolg nun auch in anderen europäischen Metropolen wiederholen.

In Paris startete das Unternehmen in diesem Sommer mit 600 E-Rollern des taiwanesischen Herstellers Gogoro. Läuft es gut, werde Bosch die weitere Expansion in Europa „zügig umsetzen“, heißt es bei Coup. Es gebe viele Großstädte mit vergleichbaren Problemen wie Stau und Parkplatzsuche. Das vielfältige Engagement zeigt: Automobilhersteller müssen das Thema ernsthaft angehen, um nicht überholt zu werden. „Es gibt gerade einen Übergang vom einfachen Autokauf und -besitz hin zu Plattform-Ökosystemen, wo ich als Konsument Mobilität on demand erwerben kann“, sagt Daniel Bartel, Sharing-Economy-Experte und Mitinitiator des privaten Carsharing-Portals Autonetzer, jetzt Drivy. „Automobilhersteller, die diesen Trend – etwa durch eigene Carsharing-Angebote – nicht mitspielen, werden einen signifikanten Bedeutungsverlust in vielen, vor allem jüngeren Zielgruppen, hinnehmen müssen“, sagt Bartel zu Berlin Valley.

„Das Auto ist für viele nur noch Mittel zum Zweck – das steht im Widerspruch zur durchschnittlichen Nutzung von nur einer Stunde am Tag. Hierzulande stehen 45 Millionen Fahrzeuge täglich rum – gewaltiges Potenzial, das mobilisiert werden will. Für die Automobilindustrie heißt das, dass eigentlich nur jeder siebte PKW gebraucht wird, das heißt, der Absatz kann theoretisch um 70 Prozent einbrechen.“ Diez sieht weniger drastisch in die Zukunft der Automobilhersteller: „Carsharing ist das Ergebnis einer Veränderung in der Automobilindustrie, die bereits stattgefunden hat.

Es wird schon lange nach neuen Ansätzen für Mobilität gesucht, weil das private Auto in den Ballungszentren keine Zukunft hat. Die Hersteller sind aktiv und im Transformationsprozess. Carsharing ist sozusagen die Hefe im Teig, die die Entwicklung der Mobilität zum Gehen bringt.“ Das Denkmal – es bewegt sich.

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